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Denken

Schienen gleich weit auseinander stehen, ist erfreulich, weil er die Eisenbahn erst fahrbar macht. Aber relativ wirklich ist nur jedes Kilo Eisen der Schienen; nicht einmal die einzelne Eisenschiene ist ganz real, weil zweckmäßige Form an ihr ist. So ist auch der Umstand, daß die Menschen eines Volkes die gleichen Zeichen für ähnliche Sinneseindrücke haben, erfreulich, er macht die Sprache brauchbar für den Verkehr. An der russischen Grenze mißt man eine andere Spurweite ab, datiert nach einem anderen Kalender, spricht man eine andere Sprache. In ähnlichem Sinne ist die Gewöhnung eines Einzelmenschen erfreulich, weil erst diese Gewöhnung die Nervenbahn fahrbar macht für die regelmäßige Anwendung der Worte. Es ist aber nur die augenblickliche Bewegung des Sprachorgans wirklich. Und nur, um nicht allen Boden unter den Füßen zu verlieren, will ich wenigstens die Gewohnheit des Einzelmenschen, die Individualsprache, als etwas Wirkliches gelten lassen.

Wortloses Es wissen nun die neueren Sprachphilosophen, welche so erstaunlich genau zwischen Denken und Sprechen distinguieren, recht gut, daß sie uns mit Allgemeinheiten über das Wesen der Sprache nicht kommen dürfen. An den Individualsprachen und womöglich am Sprechenlernen eines Kindes. suchen sie nachzuweisen, daß es ein wortloses Denken, eine wortlose Logik gebe. Zwischen den Zeilen ist dann zu lesen, daß bei normalen erwachsenen Menschen wohl Denken und Sprechen zusammenfallen müsse, daß eben nach Platons Worte das Denken ein inneres Sprechen sei, daß das Denken jedoch schon vor dem Sprechenlernen auftrete. Nun bemerkt Preyer ganz gut, daß die Begriffe der Kinder anders sind als die der Erwachsenen, und er stellt schulgerecht den Satz auf, daß diese kindlichen Begriffe einen engeren Inhalt und entsprechend einen weiteren Umfang haben als die unseren. Wäre diese Ausdrucksweise der Logik richtig angewendet, so müßten die Kinder mit sehr abstrakten Begriffen operieren können. In Wirklichkeit jedoch besteht der weitere Umfang der Kinderbegriffe nur in einer unkontrollierbaren und von Tag zu Tag wechselnden Unklarheit. Der engere Inhalt ist

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nicht mathematisch enger, sondern das Kind erweitert den Umfang und verengt den Inhalt, je nach der augenblicklichen Anregung. Es verknüpft ein Wort oder einen Begriff mit der sich ihm augenblicklich aufdrängenden Vorstellung, weil es die Sprache noch nicht beherrscht. Die Begriffe des Kindes stehen den Begriffen der Tiere nahe. Und Preyer verwechselt immer wieder unmittelbare Vorstellungen mit begrifflich fixierten Erinnerungen. Einige Beispiele Preyers sprechen schlagend gegen ihn. Er findet es logisch gedacht, wenn das Kind noch vor dem Gebrauch der Sprache eine Tür daraufhin untersucht, ob sie geschlossen sei oder nicht. Dann müßte er aber auch vom Hunde, der in noch klarerer Absicht mit der Pfote an der Türe kratzt, behaupten, daß er ohne Sprache „logisch“ denke. Bewundernswert logisch findet es Preyer auch, wenn ein anderthalbjähriges Kind Vergnügen daran findet, mit einer leeren Gießkanne von Blumentopf zu Blumentopf zu gehen und jeden scheinbar zu begießen; er sagt ausdrücklich, es sei da für das Kind der Begriff „Gießkanne“ identisch mit dem Begriffe gefüllte Gießkanne". Ein Erwachsener wäre um diese Art Logik nicht zu beneiden. Der Denkprozeß, wonach in einer Gießkanne unbedingt Wasser enthalten sein müsse, Verstand weil in dem Worte der Begriff „gießen" stecke, erinnert ganz verzweifelt an die unerträglichen Spitzfindigkeiten der Scholastiker; hätte das Kind wirklich einen solchen Schluß gezogen, so wäre es beinahe so sophistisch weise wie Anselm von Canterbury und seine Nachfolger, welche in ihrem berühmten ontologischen Beweise die Existenz Gottes daraus herstellen, daß im Begriff der Vollkommenheit auch der Begriff der Wirklichkeit mit verborgen sei. So dumm ist aber das Kind gar nicht. Es hat mit der Gießkanne nicht logisch operiert, sondern in kindlicher Weise gespielt. In einer Weise, die unentschieden läßt, wie weit das Kind sich des Spieles bewußt ist. Kinder dieses Alters halten auch das Versteckspielen für eine ernsthafte Beschäftigung. Was Preyer für vorsprachliche Logik gehalten hat, für eine wortlose Schlußfolgerung, das ist Phantasie, das ist Poesie.

Viel tiefer dringen wir in das angeblich wortlose Denken

des Kindes

des Kindes, wenn wir erfahren, daß das Kind sich ganz gewiß vor jeglicher Kenntnis der Sprache Raumbegriffe bildet, daß es schon nach wenigen Monaten im Raume Bescheid weiß, also sicherlich auf diesem Gebiete ohne Sprache denkt. Wir sehen aber sofort, daß hier wieder nur die Unzulänglichkeit der philosophischen Sprache an einer schlimmen Begriffsverwirrung die Schuld trägt.

Es ist nämlich in der Tat nach dem gegenwärtig geltenden Sprachgebrauche vollkommen richtig, daß auch unsere einfachsten Sinnesempfindungen, das heißt die sogenannten. Nachaußen-projizierungen unserer Sinneseindrücke, nicht ohne unsere Verstandestätigkeit entstehen können. Descartes hat diesen Gedanken geahnt, Locke hat ihn vorausgesetzt, Kant hat ihn genial formuliert, Schopenhauer hat ihn überzeugend verteidigt und Helmholtz hat ihn durch populäre Darstellung zum Gemeingut der Halbgebildeten gemacht. Mit schärferer Terminologie als die anderen hat Schopenhauer unter den verschiedenen sogenannten Seelenvermögen gerade den Verstand zum Meister dieser Tätigkeit ernannt. Wer sich nun unter dem Verstande das göttliche oder halbgöttliche Wesen in unserem Kopfe vorstellt, welches im Dienste einer oberen Gottheit, der Seele nämlich, dem Denkgeschäft vorsteht, der ist in seinem Rechte, wenn er mit Preyer die Orientierung im Raum für einen Denkakt erklärt. Wir anderen aber, die wir nichts wissen, die wir den Begriff Verstand aus unserer Terminologie zu streichen schon fast entschlossen sind, wir sehen gerade aus der Schlußfolgerung solcher Kinderpsychologen, wie gefährlich es war, die Entstehung der Sinneseindrücke im Gehirn dem Verstand als einem besonderen Ressortminister zuzusprechen. Was wir davon wirklich wissen, das ist doch nur die negative Tatsache, daß unsere Sinnesorgane ohne ein Zentrum (ich sage Zentrum" nur widerstrebend, mit schlechtem Gewissen; Zentrum" ist auch nur so ein provisorisches Anstandswort für „Seele“) ebenso ungeeignet wären, die Welt wahrzunehmen, wie ein Mikroskop ohne das menschliche Auge. Wir halten es dann für wahrscheinlich, daß die von den Sinnesorganen aufgenommenen Empfindungen

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irgendwo im Gehirn sich assoziieren und daß aus der Regelmäßigkeit dieser Empfindungen und aus der Möglichkeit unserer Reaktionen das Zufallsbild der Welt entsteht, in welchem wir uns mit einiger Sicherheit bewegen. Niemand kann wissen, ob er dieses Zufallsbild der Welt nicht träume. Wenn aber der Verstand der göttliche Minister ist, der in unserem Kopfe denkt, so kann von ihm die Orientierung unserer Sinne nicht ressortieren; denn die Verarbeitung der Sinneseindrücke im Gehirn hat nach psychologischem Sprachgebrauch wenig mit dem zu tun, was wir sonst das Denken nennen. Fassen wir aber das Sehen, das Hören u. s. w. unter dem Begriff des Denkens zusammen, dann haben wir den Umfang dieses Begriffes phantastisch erweitert, als ob wir Kinder wären. Mir will es viel eher scheinen, als ob die ererbte Orientierungsfähigkeit, unsere Auffassung von den sichtbaren, hörbaren, schmeckbaren, harten und weichen, schweren und leichten Dingen u. s. w., also das Zustandekommen unseres Weltbildes in unserem Gehirn, d. h. die Anpassung der Wirklichkeitswelt an unsere vorher an die Wirklichkeitswelt angepaßten Sinnesorgane, weit mehr Ähnlichkeit hätte mit der instinktiven Thätigkeit unseres Atmens und der mit ihr verknüpften Herztätigkeit, wo auch bestimmte Nerven unter chemischen und wer weiß was für Einflüssen unser Leben erzeugen und erhalten. Denkt das Kind, wenn es sieht und hört, so denkt es auch, wenn es atmet.

stumme

Von einem anderen Punkte aus sind vorsichtigere Forscher Taubdazu gelangt, ein Denken ohne Sprechen bei Kindern und Erwachsenen anzunehmen. Ohne Zweifel denken Taubstumme, auch solche, die nicht in besonderen Anstalten oder durch die Not des Umgangs eine Verständigung mit ihrer Umgebung künstlich erlernt haben. Bevor wir die Psychologie eines Taubstummen genauer kennen, sollten wir freilich nur von einem Denken ohne Hören reden. Ein solches Denken ohne Hören ist keine seltene Erscheinung. Das Denken bei sensorischer Aphasie ist freilich gewiß weniger als ein Denken ohne Hören, weil es ein Denken ohne Sprache ist; die meisten. Tiere sind uns gegenüber mit sensorischer Aphasie behaftet.

Das Experiment ist zwar noch nicht gemacht worden, ich will aber gern glauben, die allgemeine Meinung treffe das Richtige, wenn sie sagt: Ein vollkommen vereinsamter Mensch verlernt seine Muttersprache; ein einsam aufwachsendes Kind lernt nicht sprechen. Experimente sind in diesem Falle überflüssig, weil der Zustand der Taubstummen uns ausreichend darüber belehrt, wie notwendig das Gehör für den Gebrauch unserer Sprache ist. Die Taubstummen sind stumm, weil sie taub sind. Es sind auch mit genügender wissenschaftlicher Genauigkeit Fälle beobachtet worden, in denen vier und fünfjährige Kinder nach vollständiger Erlernung ihrer Muttersprache das Gehör verloren und darüber ebenso taubstumm wurden wie taub geborene Kinder. Es ist bekannt, wie undeutlich Leute reden, die auch in späterem Alter taub werden.

Was beweist das für unsere Frage? Doch nur, daß unsere Sprache, die bequeme Lautsprache, aufs innigste mit unserem Gehör zusammenhängt, was wohl nicht erst zu beweisen war. Es gibt im Gehirn vielleicht ein Gebiet, auf welchem sich unsere Gehörempfindungen und die Bewegungsempfindungen unserer Sprache aufs innigste assoziieren, so innig, daß man erst in allerneuester Zeit gelernt hat, diese beiden Empfindungen auseinander zu halten. Durchaus aber nicht bewiesen. ist dadurch, daß die Taubstummen, während sie denken, nicht ihre eigene Sprache besitzen. Es ist nachgewiesen, daß die Taubstummen aller Länder, unabhängig von ihrer gelernten Zeichensprache, einander durch instinktive Zeichen verstehen können, durch Gesten, Mienen u. s. w., die ihnen viel ausdrucksvoller sind als den hörenden und redenden Menschen. Unsere Worte sind nur Zeichen für unsere Erinnerungen, bequeme Zeichen sicherlich. Wie aber die Streckenwärter der Eisenbahn anstatt ihrer bequemen sichtbaren Zeichen, die sie bei Tage gebrauchen, bei Nacht und bei Nebel unbequemere Feuerzeichen oder gar Hornsignale gebrauchen müssen, so ersetzen die Taubstummen in dem Nebel und der Nacht ihrer Taubheit die bequeme Lautsprache durch eine andere.

Meine Betrachtung scheint sich von ihrem Ausgangspunkte

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